Interview mit Michael Reink, geschäftsführendes Vorstandsmitglied urbanicom e.V.
erschienen im Verbandsmagazin „bdvb aktuell“ des Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte
Kaum irgendwo ist die Dominanz der Global Player so gut zu besichtigen wie in den Einkaufsstraßen unserer Innenstädte: überall die gleichen, großen Marken. Dazwischen häufig Leerstand, während der Online-Handel boomt. Wir wollten wissen, was die Globalisierung mit dem Einzelhandel macht – und besuchten Michael Reink, Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik beim Verband des Deutschen Einzelhandels (HDE) und geschäftsführendes Vorstandsmitglied urbanicom, zum Interview.
Herr Reink, die Globalisierung hat uns Wachstums- und Wohlstandsgewinne beschert. Sie hat aber auch Schattenseiten. Wie beurteilt der HDE das Thema?
Große Entwicklungen wie die Globalisierung oder auch die Digitalisierung sind immer zweischneidig. Hier in den westlichen Staaten profitieren wir sehr stark von der Globalisierung. Und wie überall, so gibt es auch im Handel Formate, die gut mit der Globalisierung Schritt halten können und solche, die es nicht schaffen.
Globale Marken scheinen die Fußgängerzonen zu dominieren. Macht die Globalisierung unsere Innenstädte langweiliger?
In unseren Fußgängerzonen beträgt der Filialisierungsgrad bis zu 70 Prozent. Das muss aber nicht schlecht sein. Nehmen wir das Beispiel Stralsund, weil ich dort viele Jahre als Altstadtmanager arbeiten durfte. Damals wollte H&M eine Filiale in Stralsund oder in der nahegelegenen Studentenstadt Greifswald ansiedeln. Wir haben uns sehr gefreut, als die Entscheidung zu unseren Gunsten ausfiel, denn das bedeutete, dass junge Menschen aus Greifswald zu uns kommen würden. Der Filialisierungsgrad in Stralsund stieg zwar um ein paar Prozent und vielleicht gab es stationäre lokale Einzelhändler, die die Ansiedlung nicht toll fanden. Aber aus Sicht der Wirtschaftsförderung oder des Stadtmarketings zählt letztlich die Frage: Was erzeugt Frequenz? Und die Antwort ist eindeutig: Frequenz und Werbedruck erzeugen die großen Marken, weniger der kleine Einzelhandel.
Führt das nicht auch zu wachsenden Mieten und mehr Druck auf die kleinen, regionalen Einzelhändler?
An vielen Standorten lassen sich Vermieter inzwischen auf umsatzbezogene Mieten ein. Der Filialist zahlt dann einen Sockelbetrag und einen umsatzabhängigen, flexiblen Mietanteil. Hier ist ein preistreibender Effekt eher unwahrscheinlich. Es gibt allerdings auch Top-Lagen, in denen es bislang für große Marken eine Sache des Prestiges ist, Präsenz zu zeigen – selbst, wenn sich die geforderte Miete dort nicht erwirtschaften lässt. Das hat die Preise nach oben getrieben. Jedoch hat sich diese Situation durch die aktuellen Krisen geändert. Zudem ist teilweise festzustellen, dass Händler nach einer Geschäftsaufgebe ihre eigenen Immobilien an einen Filialisten vermieten. Die Situation ist also nicht schwarz oder weiß.
Es gibt Städte, die einen attraktiven Mix hinbekommen. In denen es Filialisten ebenso gibt wie kleinteiligen Einzelhandel – nehmen wir beispielsweise Konstanz oder das von Ihnen erwähnte Stralsund. Woran liegt das?
Konstanz verfügt ebenso wie Stralsund über ein beträchtliches touristisches Potenzial. Und Touristen möchten nicht unbedingt die gleichen Dinge einkaufen, die sie zuhause genauso gut bekommen. Hier lassen sich also ganz andere, teils wesentlich hochpreisigere Produkte absetzen als in Städten ohne Tourismus. Deshalb können hier neben den Filialisten auch Einzelhändler bestehen, die anderswo nicht überleben würden. Umgekehrt bedeutet das aber auch: Städte ohne Tourismus brauchen andere Konzepte, sie können sich hier nichts nur bedingt etwas abschauen.
Was kann denn ein Stadtmarketing ausrichten, um dem Einzelhandel in Zeiten der Globalisierung zu helfen?
Wir haben eingangs schon einmal über Frequenzen gesprochen. Genau darum geht es. Je mehr Frequenz, desto eher empfinden die Menschen einen Besuch als Bereicherung – denn wo viele Menschen sind, ist es nicht langweilig. Die Frage ist also, wie man Frequenz erzeugt. Für ein erfolgreiches Stadtmarketing sind „gebundene“ Frequenzen extrem wichtig: Arbeitsplätze, Behörden oder Bildungseinrichtungen etwa, denn sie sorgen für ein gewisses „Grundrauschen“ im öffentlichen Raum. Freie Frequenzen dagegen sind Angebote etwa des Handels oder der Gastronomie. Hier kann ein Stadtmarketing nur begrenzt eingreifen – denn ob die Qualität stimmt und die Menschen gern wiederkommen, haben letztlich nur der Einzelhändler und der Gastronom in der Hand. Wir wissen außerdem aus Umfragen, dass die Menschen sich nicht nur die Möglichkeit wünschen, einzukaufen. Sie wollen multifunktionale Innenstädte, in denen gearbeitet und gelebt werden kann, sie wollen Aufenthaltsqualität, dass etwas stattfindet und der öffentliche Raum „bespielt“ wird.
Versandhandel hat es immer schon gegeben – aber durch Global Player wie Amazon und den Online-Kanal ist der Wettbewerb extrem hart geworden. Wie gefährlich ist das für den Einzelhandel?
Im Einzelhandel ist das Online-Geschäft die wohl sichtbarste Folge der Globalisierung. Es führt zu einer starken Konsolidierung. Dabei machen insbesondere die großen Online-Plattformen anscheinend irgendetwas richtig – sonst würde das Geschäftsmodell nicht funktionieren. Für kleinere Einzelhändler verändert sich damit vieles. Früher hatten wir Orte mit unterschiedlich großen Einzugsgebieten. Der Online-Handel hat aber kein Einzugsgebiet. Theoretisch steht jeder Anbieter mit jedem anderen Anbieter auf der Welt in Konkurrenz.
Aber gleichzeitig erweitert sich die Anzahl potenzieller Kunden .…
Das stimmt nur theoretisch. In der Praxis sind die Kunden schwer zu erreichen. Wenn Sie in einer Stadt Oberhemden verkaufen, haben Sie vielleicht zehn lokale Konkurrenten und können versuchen, über Werbung ihre örtliche Klientel anzusprechen. Wenn Sie Ihre Hemden dagegen online verkaufen wollen, müssen Sie bei den großen Online-Plattformen oder Suchmaschinen auf der ersten Seite auftauchen, unter den ersten 30 Angeboten. Und wie Sie, so wollen das auch Tausende andere Anbieter. Außerdem gilt: Kunden, die online kaufen, suchen nicht nach regionalen Anbietern, sondern etwa nach Jeans einer speziellen Marke in einer speziellen Größe. Wenn man dann noch bedenkt, dass die Margen im Online-Handel geringer sind als im stationären Handel oder dass es für kleine Geschäfte einen erheblichen Aufwand darstellt, neben dem Ladenlokal ein flankierendes Online-Angebot zu betreiben, wundert es nicht, dass es zu einer Konsolidierung kommt. Dabei ist es wichtig zu betonen: Der Kunde bestimmt durch seine Kaufentscheidung die Richtung, in die sich der Handel bewegt.
Ist es eine Option, sich auf das stationäre Geschäft zu konzentrieren?
Wenn 50 Prozent des Umsatzes beispielsweise im Modesegment heute online gemacht werden, muss das Auswirkungen auf die Fläche haben. Wir stellen fest, dass manche Filialisten Flächen reduzieren, um die Flächenproduktivität hochzuhalten. Aber die Crux ist: Wenn Kunden in die Filiale kommen, dann möchten sie dort auch möglichst viel des Angebots vorfinden. Früher hat man akzeptiert, dass ein Produkt gerade nicht in der Filiale vorrätig war. Heute will man es zumindest vorab online überprüfen können oder im Anschluss an den Filialbesuch nach Hause geliefert bekommen. Damit will ich sagen: Ohne Multi-Channel-Angebot kommt heute kaum jemand aus.
In der Corona-Krise waren Lieferketten ein großes Thema – meist diskutiert aus der medizinischen oder industriellen Perspektive. Wie ist es um die Lieferketten im Einzelhandel bestellt?
Die größten Probleme entstanden aufgrund der Null-Covid-Politik von China, weil jeder Container, der in China nicht auf die Reise ging, in Rotterdam fehlte. Es bestand also auch ein erheblicher Containermangel. Aktuell funktionieren die Lieferketten glücklicherweise wieder weitgehend reibungslos. Grundsätzlich sehen wir aber den Trend, dass Unternehmen ihre Lieferketten resilienter machen wollen. Dazu holen sie Teile der Produktion wieder nach Europa oder Deutschland zurück. In der Textilbranche etwa wird diese Entwicklung von der Aussicht begünstigt, dass ein Großteil der Fertigung zukünftig automatisiert werden könnte. Andere Unternehmen wiederum erhöhen ihre Krisenresistenz, indem sie die Lagerkapazitäten aufstocken. Bei alldem darf man aber nicht vergessen: Durch Rückverlegung von Produktion nach Europa werden Menschen in anderen Erdteilen ihr Einkommen verlieren. Dann freuen wir uns über kürzere Transportwege, einen besseren CO2-Fußabdruck und heimische Produktion – sorgen aber anderswo möglicherweise für soziale Verwerfungen. Das ist das Problem der Globalisierung wie auch der Deglobalisierung: Alles hat Konsequenzen, möglicherweise am anderen Ende der Welt.
Das Interview wurde geführt Verbandsmagazin „bdvb aktuell“ des Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte welches am 3. Juli 2023 veröffentlicht wurde..
Über den Interviewpartner
Michael Reink ist seit 2011 Bereichsleiter für Standort- und Verkehrspolitik des Handelsverbands Deutschland (HDE). Der 55-Jährige studierte Diplom-Geograph an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und wirkte von 1997 bis 2007 als geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Altstadtmanagement Stralsund e.V. und anschließend als Prokurist und Ressortleiter Stadtmarketing der Wolfsburg Marketing GmbH. Seit 2002 ist er Präsident des City-Management-Verband Ost e.V., seit 2009 geschäftsführendes Vorstandsmitglied im Urbanicom e.V. und seit 2015 Präsidiumsmitglied des Wissensnetzwerk Stadt und Handel e.V.