Die Heilungsfunktionen der innerstädtischen Nutzungen

Foto Michael Reink

Kommentar von Michael Reink, geschäftsführendes Vorstandsmitglied urbanicom e.V.

Die Innenstädte sind auf dem Weg der Besserung, wobei noch nicht entschieden ist, ob einige Krankheitssymptome chronisch sein werden. Für den stationären Handel sind in unterschiedlichen Branchen wieder vermehr Flächennachfragen festzustellen.

Oft werden sogar große Flächen ab 1.000 Quadratmeter gesucht, so dass von einer spürbaren Sogwirkung dieser Geschäfte ausgegangen werden darf. Dabei gestaltet sich die Suche nach diesen Flächen oft nicht einfach, was mit der reinen Verfügbarkeit oder auch den Mietvorstellungen zu tun hat. Bei einer deutlichen Umsatzverschiebung in den Onlinehandel – z.B. bei der innerstädtischen Leitbranche Textilien (Onlineanteil: 41,8%; 2023) – und notwendiger stabiler Flächenproduktivität, sind die Mieten einer wenigen frei verhandelbaren Fixkosten. Auch wenn die Erkenntnis sich mit einiger Trägheit z.B. durch erst allmählig auslaufende (alte) Mietverträge durchsetzt. Aber: Die Jahre hoher Mietabschlüsse sind vorbei. Dies bezieht sich nicht nur auf den Handel, sondern ist allgemeingültig, da der Handel dennoch der Mieter mit dem die höchsten Mietabschlüsse bleibt – nur auf einem anderen Niveau.

In der unmittelbaren Post-Corona-Phase las man des Öfteren von monofunktionalen Innenstädten und der angebrochenen Zeit neuer Multifunktionalität. Klingt vordergründig sehr gut, denn: Mehr Funktionen = mehr Anziehungspunkte = mehr Nutzungskopplung = gleich höhere Frequenzen = mehr Lebendigkeit/Urbanität. Mittlerweile haben Studien nachgewiesen, dass es die monofunktionale Innenstadt im Grunde nicht gibt („Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den Einzelhandel in Städten und Zentren“; BBSR 2024). Stattdessen sind Innenstädte zoniert, in Fußgängerzonen, Verdichtungen der Gastronomie, Kulturareale und Bereiche in denen überwiegend auch in den Erdgeschossen gewohnt wird. Daher gilt es genau zu schauen, wie ein verträgliches Nebeneinander dieser Nutzungen zu organisieren ist. Die vorläufig gestoppte große Städtebaunovelle (Kabinettsentwurf) hatte hier einige Ansätze, um auch unverträgliche Nutzungen in den Innenstädten nebeneinander zuzulassen (z.B. Wohnen und Gewerbe). Zur in Verbindung damit beabsichtigten Änderung der TA-Lärm wurde nur ein Referentenentwurf erarbeitet, der die Empfehlungen der Bauministerkonferenz missachtete. (Gerichtliche) Auseinandersetzungen wären wohl unvermeidbar gewesen, was zu einer sukzessiven Verdrängung des innerstädtischen Gewerbes hätte führen können.

Daher sollte die Multifunktionalität der Innenstädte mit Bedacht betrachtet werden, um den Charakter der Innenstädte als Orte der Konzentration hochrangiger zentraler Funktionen nicht zu gefährden. Hierbei ist beachtlich, dass das System der zentralen Orte auch auf dem Gedanken fußt und somit die Verkehrsinfrastruktur in den Einzugsbereichen ebenfalls darauf ausgerichtet ist. Welchen Stellenwert haben also die unterschiedlichen Funktionen als „hochrangig zentrale Funktion“, bzw. welche Heilungsfunktion wohnt diesen jeweils inne? Um dies nachvollziehen zu können, muss geklärt werden:

  1. wie oft eine Funktion in der Innenstadt nachgefragt wird (Bedarfsstufen täglich, periodisch, aperiodisch)
  2. wie groß der Raum ist, aus dem die Menschen in die Innenstadt kommen/ wie groß die Anzahl der potenziellen Innenstadtbesucher ist (Einzugsbereiche)
  3. ob die Bereitstellung einer Funktion Geld kostet oder die Funktion Erträge (Steuern) erbringt (Wertschöpfung)
  4. ob die Funktion das gewünschte Bild bzw. die Attraktivität einer Innenstadt positiv zu verstärken vermag (Imagebildung)

Exemplarisch werden im Folgenden die Funktionen Kultur und Wohnen betrachtet, da diese medial besonders hervorgehoben wurden:

  • Kultur
    • Bedarfsstufen: Kulturelle Einrichtungen haben, je nach Ausprägung, unterschiedliche Bedarfsstufen. Die Hochkultur in Form von Theatern oder Opern sollte man üblicherweise im Bereich der aperiodischen Nachfrage einstufen. Hier kommt es demnach im kompletten Jahresverlauf nur zu wenigen Innenstadtbesuchen. Beim Kino sieht es anders aus, da man von einem periodischen Bedarf ausgehen sollte. Insgesamt muss jedoch festgehalten werden, dass man nicht dauerhaft im kompletten Jahresverlauf mit deutlichen erhöhten Frequenzen durch kulturelle Einrichtungen rechnen kann, da diese Effekte sich voraussichtlich nicht einstellen werden.
    • Einzugsbereiche: Differieren ebenfalls nach der Art des kulturellen Angebotes. Generell kann aber davon ausgegangen werden, dass die Einzugsbereiche der kulturellen Einrichtungen grundsätzlich einen weiten Einzugsbereich bedienen, so das potenziell viele Menschen angesprochen werden können.
    • Wertschöpfung: Kultur ist für die meisten Kommunen eine subventionierte (innerstädtische) Funktion. Als freiwillige Leistung, steht das kulturelle Angebot der Innenstadt regelmäßig auf dem Prüfstand in den jährlichen Haushaltsberatungen der Kommunen. Kommunen im sogenannten Nothaushalt, müssen oft unfreiwillig Entscheidungen treffen, die das kulturelle Angebot einer Innenstadt ausdünnen.
    • Imagebildung: Kulturelle Angebote sind geeignet das Bild und die Attraktivität einer Innenstadt zu verbessern. Es gilt zwar das subjektive Motto „Kunst ist was gefällt“, dennoch werden kulturelle Angebote grundsätzlich als förderlich für die Innenstadtentwicklung eingeschätzt
  • Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die Kultur zur positiven Imagebildung beitragen und potenziell viele Menschen in einem großen Einzugsbereich ansprechen kann. Problematisch in Hinblick auf die Heilungsfunktion für die Innenstadt ist jedoch, dass etliche kulturellen Angebote nur aperiodisch abgefragt werden und die Kultur tendenziell eher Geld kostet, als dass damit Einnahmen für den kommunalen Haushalt generiert werden können. Letztes bedingt, dass für viele Kommunen eine Heilungsfunktion durch die Kultur keine Option sein kann. Eine dauerhafte Belebung der Innenstadt im Jahresverlauf durch kulturelle Einrichtungen, ist durch die Bedarfsstufe (aperiodisch) tendenziell nicht zu erwarten.
  • Wohnen
    • Bedarfsstufen: Das Wohnen findet täglich statt. Somit werden tagtäglich Frequenzen durch das Wohnen erzeugt
    • Einzugsgebiete: Das Wohnen hat kein nennenswertes Einzugsgebiet. Solange nicht tagtäglich viele Menschen die Innenstadtbewohner besuchen, stellen sich in Bezug auf das Einzugsgebiet keine Vorteile für die Innenstadtentwicklung ein. Das Wohnen ist daher eine egoistische Funktion.
    • Wertschöpfung: Durch das Wohnen den in den Innenstädten wird Geld in der Immobilienbranche verdient. Das Wohnen ist daher geeignet, zur Werterhaltung der Innenstadt beizutragen.
    • Imagebildung: Das Wohnen kann sich sehr positiv auf die Imagebildung auswirken. Das ist zwar auch abhängig von der Klientel, die in der jeweiligen Innenstadt wohnt. Grundsätzlich ist es jedoch von Vorteil, wenn auch die oberen Geschosse der Gebäude beleuchtet sind und die Innenstadtbewohner auch zur Belebung der Innenstadt beitragen.
  • Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass Innenstadtbewohner zur Lebendigkeit einer Innenstadt beitragen und durch die Mietzahlungen auch den Werterhalt der Immobilien unterstützen. Dennoch dürfen die Heilungswirkungen nicht überschätzt werden, da durch das Wohnen keine Einzugsbereiche außerhalb der Innenstadt bedient werden. Die Frequenzsteigerungen beziehen sich daher nur auf die Bewohnen an sich. In Relation zur Sogwirkung anderer innerstädtischen Funktionen (je nach Stadtgröße mehrere Zehntausend Besucher täglich), ist diese Belebung daher eher zu vernachlässigen. Auch die positiven Effekte z.B. auf den Einzelhandel sind – bis auf die Angebote in der „Nahversorgung (Einzugsbereiche von 800 bis 1.000m fußläufige Erreichbarkeit) – tendenziell schwach. Handelsunternehmen mit Produkten im periodischen und aperiodischen Bedarf sind auf große Einzugsbereiche mit tausenden Einwohnern angewiesen, so dass Innenstadtbewohner als Umsatzquelle zu vernachlässigen sind.

Das macht den Gedanken an multifunktionale Innenstädte nicht unattraktiver, da sich Kopplungseffekte nur einstellen können, wenn die Nutzungen in räumlicher Nähe sind. Auch wenn urbanicom als „Deutscher Verein für Stadt und Handel“ immer einen starken Fokus auf die Handelsentwicklung legt, muss rein objektiv herausgestellt werden, dass es zwei Trumpfkarten im Innenstadtquartett gibt: Einzelhandel und Gastronomie. Dies sind die Nutzungen, die teilweise tägliche Sogwirkung entfalten (Bedarfsstufen), Menschen aus einem weiten Umland anziehen (Einzugsbereiche), dabei Gewerbesteuereinnahmen für die Kommunen generieren (Wertschöpfung) und bei einem qualitätvolle Angebot das Image der jeweiligen Innenstadt steigern. Keine andere Innenstadtfunktion vermag diese Kombination positiver Faktoren auszulösen.

Daher ist die (kommunale) Politik gut beraten, auch weiterhin die positiven Effekte des Handels und der Gastronomie in den Fokus der Innenstadtentwicklung zu nehmen. Bei den Innenstädten, für die eine andere Körnung der Funktionen beabsichtigt wird/ beabsichtigt werden muss (bereits massive Funktionsschwächen vorhanden), wird sich auf Dauer ein anderer Charakter dieser Innenstädten einstellen. Ob diese Innenstädte noch als Identifikationsorte mit hoher Anziehungskraft fungieren können, werden diese Realexperimente zeigen.