Kommentar von Michael Reink, geschäftsführendes Vorstandsmitglied urbanicom e.V.
Wir hören seit einiger Zeit immer wieder folgendes Narrativ: „Monokulturen sind anfällig für Krisen. Das gilt nicht nur für die Fichten im Harz, sondern auch für den Immobilienmarkt und die Innenstadtentwicklung“, sagte Frau BMin Geywitz. „Die Innenstädte vielerorts befinden sich in der Krise. Oft sind sie fast ausschließlich auf den Einzelhandel ausgerichtet, unterscheiden sich durch die Geschäfte aber kaum.“ Auch das BBSR gibt das Narrativ weiter, wie hier zu sehen ist. Diese Aussage ist so falsch wie sie gefährlich ist, da die Politik daraus die falschen Schlüsse ableitet.
- Innenstädte waren immer multifunktional. In jeder Innenstadt gibt es Bereiche in denen vorzugsweise gewohnt wird, wo sich vorzugsweise die Kultur angesiedelt hat, wo vorzugsweise die Gastronomie ihren Schwerpunkt hat und wo sich vorzugsweise der Einzelhandel konzentriert.
- Aber nur der Einzelhandel vermag es über seine „höchsten“ Ausstrahlungseffekte und seine Anziehungskraft (Einzugsgebiete) dafür zu sorgen, dass die Bereiche, in denen sich der Handel vorzugsweise angesiedelt hat (Fußgängerzone/ zentraler Versorgungsbereich) im üblichen Sprachgebrauch als Synonym der ganzen Innenstadt genutzt zu werden: „Wir gehen in die Stadt“. Hier wird die Stadt mit der Innenstadt gleichgesetzt und die Innenstadt mit der Fußgängerzone. Das unterstreicht die Bedeutung des Handels für die Innenstadt- und Stadtentwicklung. Dadurch werden die Innenstädte aber nicht monofunktional. Der Sprachgebrauch ersetzt hier offensichtlich auch für die Experten*innen und Minister*innen das Faktische.
- Nun soll der § 7 BauNVO inklusive der TA-Lärm novelliert werden, um die Innenstadt multifunktionaler werden zu lassen. Das ist interessant, da die gewünschte Zukunft der ohnehin bestehenden Realität entspricht. Offensichtlich schauen nun aber viele Beteiligte nicht mehr richtig hin und denken, den „Schlüssel“ zur Innenstadtbelebung gefunden zu haben: Das Wohnen.
Der Handel läuft dabei Gefahr, als Sündenbock vernachlässigter Stadtplanung herzuhalten. Stadtplaner/ Kommunalpolitiker haben sich zu lange darauf verlassen, dass der Einzelhandel mit seinen interessanten Produkten die Menschen in die Innenstädte lockt. Diese (nahezu) Alleinstellung des stationären Handels ist durch den Online-Handel aufgelöst worden. Die Reaktion der Kommunen auf diesen „Gamechanger“: Wenig. Viele haben diese Veränderungen im Einzelhandel zu spät wahrgenommen. Handelsplanung war selten „Planung“, sondern „Kanalisation des Drucks“ oder Verhinderung. Die Kommunen hatten lediglich realisiert, dass der Druck auf die Handelsflächen nachgelassen hat und die Leerstandsquoten stiegen. Eine ersthafte Auseinandersetzung mit der „Handelsplanung“ hat selten stattgefunden und bewusste Ansiedlungspolitik gab und gibt es bei der Wirtschaftsförderung für andere Wirtschaftssparten.
Nun wird aber ausgerechnet der Handel, mit dem man sich eh nur stiefmütterlich beschäftigt hat, zum Problem der Innenstadtentwicklung. „Wir haben zu viele Handelsflächen ausgewiesen“ … „Der Handel dominiert unsere Innenstädte, die wieder multifunktionaler werden müssen“.
Meines Erachtens müssen wir anfangen, die ganze Geschichte zu erzählen. Der Handel ist garantiert nicht der Auslöser verfehlter Innenstadtplanung. Das einige Kommunalpolitiker und Ministerien nun ausgerechnet die höchste zentrale Funktion – den „Einzelhandel“ – bewusst aus den Innenstädten „herauszudenken“, widerspricht allem, was die Fachleute einmal gelernt haben: Wenn die Innenstädte die „Konzentration hochrangig Zentraler Funktionen“ sind, dann ist es infam zu glauben, dass die Innenstädte ausgerecht durch eine Funktion ohne zentrale Funktion belebt werden können – das Wohnen.
Das BBSR hat dazu jüngst eine Studie veröffentlicht, die sich u.a. mit der Nutzungsmischung der Innenstädte beschäftigt hat:
„Die untersuchten Innenstädte zeichnen sich durch einen vielfältigen Nutzungsmix aus. Gemessen an der Anzahl der Betriebe entfallen von den in den Erdgeschossen erhobenen Nutzungen in 2023 rund 34 % auf den Einzelhandel, danach folgen verschiedene Dienstleistungen (25 %) und die Gastronomie (14 %). Insbesondere in kleineren Städten und in Randbereichen der zentralen Versorgungsbereiche spielt auch das Wohnen eine größere Rolle. Bezogen auf die Innenstädte aller Fallstudien beträgt der Anteil des Wohnens an der Anzahl aller Nutzungen in den Erdgeschossen immerhin 12 %. Alle anderen Nutzungen (z. B. Bildung, Kultur oder das Handwerk) spielen eine sehr untergeordnete Rolle. Der relative Anteil der Zwischennutzungen ist kaum relevant.“ https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/bbsr-online/2024/bbsr-online-07-2024.html Die 12% Wohnnutzung beziehen sich dabei übrigens nur auf die Erdgeschossnutzungen. Es ist davon auszugehen, dass das Verhältnis der Obergeschossnutzungen noch stärker zugunsten der Wohnnutzung ausfallen dürfte.
Ergo: Wir sollten das Narrativ der monofunktionalen Innenstadt sofort aufgeben, da es nicht der Realität entspricht, eine falsche Analysebasis darstellt und uns folglich zu den falschen Lösungen führt: „Wohnen als Rettungsanker der Innenstadtentwicklung“.